Ich finde die Idee eines ticketlosen ÖPNV ehrlich gestanden sensationell gut. Die Vorstellung, in jeden Bus in der Stadt einsteigen zu können, ohne dafür eine Fahrkarte kaufen zu müssen, ist einfach nur verlockend. Wer wäre zukünftig so bescheuert und würde sich für Strecken innerhalb der Stadt ins Auto setzen? Die Idee der Bundesregierung zur Verhinderung von Fahrverboten in einigen Kommunen die ticketlose Nutzung von Bussen zu testen, hat allerdings nicht nur Begeisterung, sondern auch Skepsis und Ablehnung hervorgerufen. Verwiesen wurde unter anderem darauf, dass ein ticketfreier ÖPNV noch lange kein kostenloser ÖPNV ist, da die Kosten von der Allgemeinheit getragen werden müssten. Das ist zutreffend, gilt aber zum großen Teil auch heute schon. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat 2010 ermittelt, dass bundesweit nur rund 37 Prozent der Kosten über den Ticketverkauf finanziert werden, der Rest über öffentliche Zuschüsse. Und auch der motorisierte Individualverkehr (MIV) wird von der Allgemeinheit kräftig gepampert: pro Jahr zahlen KFZ-Nutzerinnen und -Nutzer rund 50 Milliarden Euro an Steuern, die Folgekosten des MIV hingegen liegen mit 90 Milliarden Euro erheblich höher. Die Finanzierung des Verkehrs ist also immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, egal wie (und auch wo) man sich selber fortbewegt.
Klar würde sich zu Beginn die Kapazitätsfrage stellen: wenn sich tatsächlich, wie zum Beispiel in Tübingen vermutet wird, die Zahl der Busfahrenden um ein Drittel erhöht, wäre das zunächst eine Herausforderung für die Verkehrsbetriebe. Gleichzeitig würde das aber auch bedeuten, dass im Gegenzug viele unzählige Autos in der Garage oder vor der Haustür stehen blieben (oder mittelfristig sogar komplett abgeschafft würden) und somit der Verkehr auf der Straße insgesamt signifikant abnähme. Weniger Verkehr auf der Straße bedeutet weniger Stau, weniger gesundheitsschädliche Abgase und Lärm, bedeutet weniger Kosten im Gesundheitsbereich. Und teure Ausbauprojekte wie die L419 auf den Wuppertaler Südhöhen, der über 100 Millionen Euro kostet und ausschließlich dem Autoverkehr zugute kommt, wären spätestens dann überflüssig.
Vielleicht mache ich es mir zu einfach und die Realität ist viel zu komplex für solche Hirngespinste. Ich finde aber, dass es sich lohnt, über visionäre Lösungsansätze nicht einfach hinwegzugehen, sondern sich mit ihnen ernsthaft zu beschäftigen und sie dort auszuprobieren, wo die Bereitschaft besteht Neues zu wagen. In Wuppertal (das ist die Stadt, die außergewöhnliche Mobilität zu ihrem Wahrzeichen gemacht hat) gibt es bereits eine Initiative für ein Solidarisches Bürgerticket. Unter anderem das Wuppertal Institut (weltweit unter den Top Ten im Think Tank-Ranking) beschäftigt sich hier mit der konkreten Ausgestaltung und den Auswirkungen eines ticketlosen ÖPNV. Wenn also die Kommunen, die von der Bundesregierung für ein solches Modellvorhaben ins Gespräch gebracht wurden, keine Interesse an der Teilnahme an einem derartigen Experiment haben sollten, dann bin ich mir sicher, dass Wuppertal auf Grundlage dieser hervorragenden Vorarbeiten gerne einspringen und Testkommune für ein solidarisches Bürgerticket werden würde.